SG38-Gruppenfoto
Posted on / by Ulrike Pawel / in EVENT, FLUGBETRIEB, GESCHICHTE, JUGEND

SG38-Gummiseilstart: Ein Ausflug in die Geschichte

Vor genau 70 Jahren bauten die Bensheimer Segelfluggruppe nach ihrer Wiedergründung als erstes einen Schulgleiter von 1938: ein SG38. Beim Anblick der historischen Fotos und den Erzählungen der Alten fragten sich viele junge Piloten, wie das Fliegen wohl damals tatsächlich war. Um das auszuprobieren, organisierte Karsten Piepenburg als stellvertretender Jugendleiter, einen SG38-Gummiseilstart-Lehrgang beim Rhönflug Oldtimer Segelflugclub Wasserkuppe (OSC).

1954: Start mit dem SG38 mit Boot auf der Bürgerweide in Lorsch

Begrüßung

„Herzlich Willkommen. Ich bin der Norbert, Euer Fluglehrer und das ist Karl-Heinz Kellermann, langjähriger ehemaliger Vorsitzende mit viel Erfahrung. Er wird mich unterstützen,“ begrüßt Rheinländer Norbert Schaden eine bunte 40-köpfige Truppe im Hangar des OSCs: Mitglieder der Bensheimer Jugendgruppe (Altersgrenze angehoben auf 68 Jahre), verstärkt durch die Vielbrunner Segelfliegerfreunde (FSC Mümmlingstal). Fünf Damen sind, anders als in den Pionierzeiten, nicht als Zuschauer mitgekommen, sondern werden selbst pilotieren.

SG38-Dokumentation
Dokumentation mit „analogem Vereinsflieger“, rechts: Zusatzballsast; Foto: Stephan Hartmann

„Ausziehen heißt nit nackisch maachen. Dat Seil wird ausgezogen,“ erörtert Norbert kurz die Gummi-Seilstart-Kommandos sowie die wichtigsten Regeln für den SG38.

Doch zunächst muss der Papierkram erledigt werden sowie das Pilotengewicht brutto, also mit Frühstück und Kleidung, diskret dokumentiert werden. Das ist später entscheidend, welcher zusätzliche Ballast wo angebracht werden musste: Bei Leichtgewichten vorne, bei schweren Jungs hinten am Schwanz.

Los geht’s

Behutsam wird der Gleiter mit dem Kennzeichen D-7052 auf das Transportwägelchen gesetzt, ausgehallt und an den alten Deutztraktor angehängt. Das Wetter an diesem Oktober Morgen: frostig, aber sonnig, schwacher Südwestwind, also auf zum Südwesthang.

SG38-Aushallen
Aushallen

Die Plastikplane als Startrutsche wird positioniert, das dicke Gummiseil ausgelegt. Das Betreuerteam erläutert den allgemeinen Ablauf des Flugbetriebes sowie die gewünschte Flugbahn. Den ersten Start absolviert der erfahrene Fluglehrer selbst. „Dat Passt!“

Startvorbereitungen

Dann darf der erste Kandidat aufsteigen. „Immer von links, sonst kostet dat ein Kasten Bier. Absteigen nach rechts kostete übrigens jenauso viel. Sitzte bequem?“, fragt Norbert fürsorglich nach. Naja, so bequem wie man auf einem Holzsitz über einer Kufe balancierend sitzen kann, zumindest sehr luftig. Jedem einzelnen Piloten erklärt der Fluglehrer nochmals in aller Ruhe, auf was er achten sollte. Alles klar, die Nervosität legt sich. Das Seil wird in dem offenen Haken eingehakt. Konzentration.

Vorflugcheck: Gurte: fest und sicher angeschnallt – Fallschirm: wozu? Bis 50 m Höhe funktioniert der eh nicht – Ruder: freigängig – Bremsklappen: bei einem Gleitwinkel von 1:10 verzichtbar – Höhenmesser bzw. Instrument: überbewerteter Schnickschnack, ist also nicht vorhanden – Funk: analoge Kommunikation per Zuruf, funktioniert – Haube bzw. Mütze: Sitzt fest am Kopf und ist gegen Wegfliegen gesichert – Startunterbrechung: Entweder sitzenbleiben oder geradeaus landen. Nach einem schnellen Blick zum Höhenruder korrigiert Norbert nochmal kurz die Knüppelposition. Jetzt ist der Pilot startklar, ebenso Haltemannschaft und Startmannschaft, auch Gummihunde genannt.

SG38-Start
Konzentration kurz vor dem Start

Start

Schon erklingt ein melodiöses „Ausziehen“. Fast wäre man als Zuschauer geneigt, der freundlichen Aufforderung in unsittlicher Weise Folge zu leisten, aber die fünf Schichten Skiunterwäsche, Pullover, Jacken etc. verhindern dies ebenso wie die kühlen Temperaturen. Die Gummihunde gehorchen indes, mindestens sechs Mann/Frau auf jeder Seite ziehen langsam das Seil aus. Ein munteres „Laufen“ im rheinischen Singsang erschallt über den Hang: Die Mannschaft rennt los, stolpert den Abhang hinunter, gibt alles, der Schweiß läuft. Schnell wird klar, warum man von „Flugsport“ spricht. Und warum die SFG-Altvorderen damals 1952 mit dem SG38 zeitgleich eine Winde bauten.

SG38-Gummihunde
Die „Gummihunde“ geben alles

Das Seil spannt sich, die Zuschauer feuern an, das Holz knarrt, noch hält die Haltemannschaft das Seil am Schwanz und damit das Flugzeug fest. Dann das Kommando „Los“.

SG38-Haltemannschaft
Die Haltemannschaft mit vollem Einsatz

Der Flug

Kurz rutscht der SG38 über den Boden. Die Beschleunigung drückt mich sanft in den Sitz schon schießen wir in die Luft.

SG38-Start
Start im SG38

Jippi, ich fliege! Durch pure Muskelkraft (danke Jungs und Mädels!) frei wie ein Vogel! Das Seil fällt aus dem Haken. Fast lautlos schwebe ich über der Landschaft, spüre den Fahrtwind im Gesicht, die Hose flattert am Bein. Unter mir hecheln die Gummihunde, ganz schön hoch…
„Drücken!“ ruft plötzlich Fluglehrer Norbert. Ja, da war was: „Nicht Ziehen um Höhe zu gewinnen, sondern dem Gelände nachfliegen“, hatte er bei der Einführung erklärt. Also drücken, leichte Linkskurve einleiten…. Oha, das Gelände ist schneller da, als ich schauen kann.

Die Landung

Landecheck? Ach vergiss es. Da, schon recken sich mir die einzelnen Grashalme entgegen?! Abfangen wäre gut. „Zieeeeeeeehh!“ ruft es irgendwo hinter oder neben mir. Ja doch, ich ziehe doch schon, aber das interessiert diesen Schulungsgleiter nicht. Die Ruder scheinen meine Befehle zu ignorieren, sie reagieren nicht mehr. Die Kufe setzt knarzend auf, rutscht rumpelnd über das unebene Terrain.

SG38-Landung
Schieflage nach der Landung, aber die Rückholer kommen schon

Nach wenigen Metern neigt sich die rechte Fläche zu Boden. Schnell den Knüppel nach rechts, um das rechte Querruder beim Auftreffen auf dem Boden zu entlasten. Stillstand – ganz schön schräg hänge ich in den Gurten. Erstaunlich, wie robust diese alte Kiste, Baujahr 1953, doch ist. Jetzt bloß nicht vor der Rückholmannschaft absteigen, sonst kostet das wieder einen Kasten Bier. Außerdem besteht die Gefahr, dass der SG38 schon bei leichtem Wind unkontrolliert abheben könnte, wenn das Pilotengewicht fehlt. Aber immerhin, ich bin innerhalb der erlaubten Geländegrenzen geblieben, habe die „Bierlinie“ nicht touchiert. Flugstrecke: irgendetwas zwischen 80 – 120 m, geschätzt, gibt vermutlich trotz unschlagbarem Index keine OLC- oder DMSt-Punkte. Flugzeit: 19 Sekunden mit der Stoppuhr gemessen, gefühlt ewig, aber trotzdem viel zu kurz. Also so haben die damals Fliegen gelernt?! Unglaublich!

SG38-Flugbuch-anno
Flugbuch anno1952 von Ehrenmitglied Fritz Baum

Rücktransport

Mit dem alten Deutz kommen die Rückholer angezuckelt und erlösen mich aus meiner Schieflage. Der Gleiter wird auf das Transportwägelchen gehievt, wieder an den Traktor angehängt und im gemäßigten Tempo tuckern wir zurück zum Start. Inzwischen hat die Seilmannschaft das Gummiseil zurück zum Start transportiert, selbstverständlich auf Händen tragend, ohne es durch den Dreck zu schleifen. Das Seil wird wieder startklar ausgelegt, der Flieger in Position gebracht und schon ist der nächste Pilot an der Reihe. Es formiert sich eine neue Lauf- bzw. Haltemannschaft, einige verschnaufen. „Pilot startklar?“ „Ja!“ – „Haltemannschaft fertig?“ „Ja!“ „Startmannschaft fertig“ „Ja!“ – „Ausziehen….Laufen…Los!“. In diesem Rhythmus geht es weiter, bis am Abend der erste Durchgang geschafft ist.

Flugbetrieb

Jeder packt an, wo Hilfe nötig ist. Besonders beliebt bei den Damen und Herren Piloten: Trecker fahren. Lautes Knurren in der Magengegend kündigt die Mittagszeit an. Flugs organisiert die Jugend ein üppiges Mittagsbuffet am Start, jeder belegt sich sein Brötchen selbst, der Flugbetrieb geht gemütlich weiter. Überhaupt, liegt es an der gemäßigten Geschwindigkeit des SG38 (max. 60 km/h), am sonoren Tuckern des Deutzs, der körperlichen Anstrengung oder an Norberts unaufdringlichen, ruhigen Art: Es gibt keinen Moment Stress oder Hektik, kein Gebrüll, im Gegenteil: Alles wirkt entschleunigt, ringsherum fröhliche Gesichter, das „Wir“ und das „Miteinander“ dominiert. Ob das früher auch so war?

Müde aber glücklich fallen alle am Abend ins Bett.

SG38-Aufrollen-Gummiseil
Keine Fesselspiele, sondern das Aufrollen des Gummiseils

Tag 2

Am nächsten Tag lautet die Prognose „im Tagesverlauf mäßiger Westwind“, daher zieht der Tross zum traditionsreichen Weltenseglerhang. Heute dürfen die Fliegengewichte als erstes starten. Doch der Wind hält sich nicht an die Vorhersage, oder hat sie falsch herum gelesen. Er bleibt schwach, dreht dann auf Ost! So wie ein leichter Gegenwind die Flugphase des Gleiters deutlich verlängert, so verkürzt Rückenwind schlagartig das Flugvergnügen, wenn er nicht gleich das Abheben komplett verhindert. Keine guten Aussichten für die nun anstehenden gewichtigeren Piloten.

SG38-Startmannschaft
Die Startmannschaft gibt alles, aber die Abflughöhen werden immer niedriger

Zu den Anfangszeiten der Wasserkuppe suchte mach sich einfach eine andere, passendere Stelle auf dem weitläufigen freien Gelände. Aber heute tummeln sich nicht nur ein paar verrückte SG38-Piloten, sondern auch Modellflieger, Paraglider, Motorflugzeuge, Biker, Spaziergänger, es gibt Zäune, Schutzgebiete usw. In einer kurzen SegelflugzeugführerInnen-Lagebesprechung wird einstimmig beschlossen, kein weiteres Risiko einzugehen und den Flugbetrieb abzubrechen. Denn auch wenn der Schulgleiter 38 wegen seiner guten Reparaturfähigkeit bekannt ist und man früher wie selbstverständlich nach fast jedem Wochenende in der Werkstatt stand, war niemand gewillt, diese Tradition auf Biegen und Brechen fortführen.

Der Lehrgang endet, wie er begann: mit Papierkram und einem herzlichen Abschied.

SG38-Gleitschirm
Fluggerät: Alt oder Neu – Wer wohl den besseren Gleitwinkel hat…

Fazit

Der Respekt vor den Pionieren der Luftfahrt ist bei allen nochmal enorm gestiegen. Egal, ob noch Flugschüler oder schon erfahrener Pilot mit vielen hunderten von Streckenflugkilometern: Allen zauberten diese 15-20 Sekunden auf dem Schulgleiter ein Lächeln ins Gesicht. Erlebbar war außerdem eine uneingeschränkte Kameradschaft, wie sie unter Segelfliegern eigentlich sein sollte, heutzutage aber leicht in Gefahr geraten kann, verloren zu gehen.

SG38-Anstrengend
SG38-Fliegen – Anstrengend aber toll

Fotogalerie

Funksprüche:

  • „Mist, ich habe die Sonnencreme vergessen!“ – „Kein Problem, wir cremen dich morgen beim Frühstück einfach mit Nutella ein.“
  • „Und was mache ich, wenn ich doch zu hoch bin?“ – „Slippen!“
  • Beim Anblick der Startklatte und Stoppuhr: „Ah, eine analoge Vereinsflieger-Version.“
  • „Da läuft man läuft ja länger, als das man fliegt.“ – „Ist halt echter Flugsport, Betonung auf Sport.“
  • „Kann ich mir das Zurückziehen als Blockzeit aufschreiben?“
  • „Wie wäre es mit Winglets für den SG38? Das müsste doch bestimmt einige Gleitpunkte bringen.“ – „Frag‘ mal Uwe…“
  • Vielbrunner Pilot: „Ich werde nie wieder etwas gegen unsere mickerige Ausklinkhöhe an der Winde sagen…“
  • „Schon verrückt: Da haben wir Hochleistungs-Segelflugzeuge mit super Performens, Gleitzahlen 40, 50 und mehr, ausgeklügelten Sicherheitscockpits inklusive super moderne satellitengesteuerte Navigationscomputer, aber jetzt sitzen wir auf einem Besenstiel mit Holzsitz sowie stoffbespannten Flügeln und wollen in die Luft…“
  • „Oh, der Schlegel ist mit Tape gesichert.“ – „Keine Sorge, das hält, ist ein luftfahrtgeprüftes Tape…“
  • „Mein 7000. Start – ein SG38-Start! Hat was.“ – „Stimmt, riecht nach Freibier…“
  • Fotograf: „Das ist heute schwaches, diffuses Licht, schwierig zum Fotografieren…“ – „Ja, sehr stratoformes Wetter.“ – „Na besser als zu cumulantes Wetter mit Lighting Show…“
  • Am Buffet: „Komisches Gefühl: Ich habe mich um nichts gekümmert und stehe jetzt hier vor einem Tisch mit lauter leckeren Sachen…“ – „Du bist nicht zu Hause. Du hast Urlaub. Genieße es einfach.“ – „Tue ich ja, trotzdem sehr ungewohnt…“
  • Fritz Baum, begann 1952 seine Laufbahn mit SG38-Gummiseilstarts, beim Lesen der Ankündigung: „Die wollen SG38-Gummiseilstarts machen? Also ich wollte das nicht mehr, das ist doch viel zu anstrengend. Ich war froh, als wir endlich an der Winde starten konnten…“