SG38 Fliegen: Einer für alle – Alle für einen
Warum setzt man sich heute, im Zeitalter der Hochleistungs-Segelflugzeuge aus Kohlefasern mit Sicherheitscockpit inklusive satellitengesteuerte Navigationscomputern, auf ein luftiges (und glattes) Holzbrett zwischen zwei stoffbespannten Flügeln, gehalten von diversen Spanndrähten, um dann mit einem Gummiseil in die Luft geschossen zu werden?
Die Antworten reichen von sachlichen „Berechtigung Gummiseilstart“, „Back to the roots“, einem löblichen „ich fliege nicht, will nur die Vereinskameraden unterstützen“ über „Gaudi“, „bin scharf auf das Vintage-Badges von WeGlide“, „gute Ausrede, um den Kantinendienst zu schwänzen“, „den Geist der Flieger-Urahnen erspüren“, „Dabei sein ist alles“ bis hin zu „großem Spaß, mit so einem Haufen Leute am gleichen Strang zu ziehen“.
Der „Haufen“ besteht aus gut 35 PilotInnen, FlugschülerInnen und HelferInnen, im Alter zwischen 9 bis 84 Jahren der SFG Bensheim sowie der Odenwälder Kollegen des FSC Mümlingstal, darunter Gummiseilstart-Profis, aber auch echte Anfänger.
Zunächst macht die Wasserkuppe ihren Namen alle Ehre und begrüßt die Gäste am Samstag Morgen mit Nieselregen und kräftigem Wind (Böen bis über 50 km/h).
Der Schulgleiter – ein vollwertiges Segelflugzeug
„Es wird bald trockener, aber der Wind ist noch zu stark. Der Schulgleiter SG38 fliegt schon mit 35 km/h, zugelassene Windstärke ist daher max. 30 km/h. Wir haben Zeit für den Papierkram, theoretischer Einweisung sowie, wer will, eine Werkstattbesichtigung. Um 14:00 h treffen wir uns wieder,“ erläutert diensthabende Fluglehrerin Elisabeth Landsteiner vom Rhönflug Oldtimer Segelflugclub (ROSC) Wasserkuppe. Sie erzählt weitere interessante Details über den Schulgleiter: SG steht demnach für Edmund Schneider (Hersteller und Mitkonstrukteur) aus Grunau/Riesengebirge, 38 für das Konstruktionsjahr 1938.
„Der SG38 ist ein vollwertiges Segelflugzeug mit allem, was ein Segelflugzeug benötigt: Flügel, Steuerung, Kennzeichen, Lebensakte, ARC. Er war aber früher im Gegensatz zu heutigen Exemplaren in gewisser Weise ‚Verbrauchsmaterial‘: Man flog, bis etwas zu Bruch ging. Das ging damals in der Anfängerschulung, wo der Fluglehrer am Boden blieb, meist relativ schnell. Dank der einfachen Bauweise konnte/kann man aber alles einfach reparieren (frisch verleimen) oder relativ schnell wieder neu bauen. Kaum ein (Holz)-Teil ist hier noch original (Bauzeit 1952/53), bis auf die Metallbeschläge. Die stammen mutmaßlich alle noch aus den 30er oder 40er Jahren“.
Ein Teil der Mannschaft wandelt weiter auf den historischen Spuren ins Deutschen Segelflugmuseum oder zum „Frei-Luft-Badezimmer“ aus den Anfängen der Wasserkuppen-Fliegerei mit fließend kaltem (!) Wasser: die gefasste Fuldaquelle. Ein Hoch auf die heißen Duschen in der Jugendherberge…
Segelfliegen – Mannschaftssport
Es geht los: Im OSC-Hangar erklimmt Fluglehrerin Elisabeth eine Leiter, um die noch schlaffen Spanndrähte für den anstehenden Einsatz am Spannturm zu straffen. „Diese Strippen machen das Aufrüsten eines SG38 jedes Mal wieder spannend. Da kann man viel falsch machen…“
Erst danach wird der Schulgleiter vorsichtig ausgehallt und stilecht von einem alten Deutz Traktor (das Vorglühen nicht vergessen) gemächlich Richtung West zum berühmten Weltensegler-Hang gezogen.
Schnell wird klar: Segelfliegen ist hier eine echte Mannschaftssportart: Damit ein/e Pilot/Pilotin in die Luft kommt, sind mehr als 25 Helfer nötig. Dabei macht jeder das, was er am besten kann: Die Jugend kann am besten rennen und stellt damit das Gros der seilziehenden Gummihunde, während Ältere die weniger kräftezehrende Aufgaben wie Traktorfahren übernehmen (oder mit den Gummihunden mitrennen). Am Ende des Tages kommen locker elf und mehr Kilometer Laufstrecke zusammen.
Wer nicht rennen kann, ist prädestiniert für die obligatorische Startschreiberposition, wo mit Stoppuhr die Flugzeit exakt auf die Sekunde dokumentiert wird. Derweil hält eine andere Pilotin mit ihrer Kamera das Ereignis für die Mannschaft fotografisch fest. Selbst der neunjährige Max ist als „SG38-Transportballast“ bei der Rückholmannschaft im regen Einsatz.
In aller Ruhe weist Fluglehrerin Elisabeth die Pilotin (oder Piloten) ein. Erst, wenn alles passt, gibt sie das Startkommando. Hörte man am Anfang auf die Frage „Seilmannschaft bereit?“ noch ein etwas unsicheres „Äh wer? Wir? Was?Ach so, ja,“ so donnert ihr am schon bald ein routiniertes „Fertig!“ entgegen. Nach dem Kommando „Laufen“ stürmen die 16 Gummihunde (acht an auf jeder Seite des V-förmigen Gummiseils) unter lauten Anfeuerungsrufen vorwärts. „Loslassen“ und der SG38 gleitet über ihre Köpfe hinweg. Die Landung erfolgt nach 15-20 Sekunden. Bis das Fluggerät eingesammelt und wieder startbereit für die nächste Runde ist, vergehen locker 10 bis 15 Minuten. Zeit zum Krafttanken und Plaudern. „Ganz schön anstrengend, aber auch eine echte Gaudi“, keucht einer der „Gummihunde“. Die Unterschiede der Vereinszugehörigkeit, ob „richtiger“ Pilot oder nur Helfer, sie verschwimmen schnell. Alle für einen lautet das Motto. Erst die einsetzende Dunkelheit setzt dem Treiben ein jähes Ende, leider noch bevor der erste Durchgang komplett geschafft ist.
Knofe und Streckengleitflug
Am nächsten Morgen herrscht erneut „Knofe“: Nebelschwaden ziehen über die Kuppe, verhüllen die Landschaft. Der Startaufbau wird auf die Mittagszeit verschoben, der Wind hat sich ebenfalls etwas verschoben: Er kommt mehr aus Süd. Daher wird der Südhang unterhalb des Radoms die heutige Startstelle sein. Eine weitere Besonderheit: Es stehen zwei SG38 am Start: Neben dem OSC-eigenen ein privates Exemplar. „Ein Eigenbau, den ich 2019 gekauft habe und der seit dem leider unter der Hallendecke hängt. Aber jetzt habe ich endlich Zeit für mein Schätzchen,“ erklärt sein stolzer Besitzer und Fluglehrer Horst Seilpolt.
Wieder erfolgt zunächst eine allgemeine Einweisung: „Nach dem Ausklinken eine 90-Grad- Linkskurve, mit einem kräftigen Tritt ins Seitenruderpedal und max. 10 Grad Schräglage (!), danach parallel zum Hang weiterfliegen. Genießen, hier sind längere Gleitflüge als gestern möglich, und abschließend wie gehabt landen“.
Allerdings heißt es zunächst warten. Einige nutzen die Gelegenheit zum Besuch des nahegelegenden Fliegerdenkmal. Die Nässe und der kühle Wind machen sich langsam unangenehm bemerkbar, kriechen durch alle Kleidungsschichten. Mit Qigong oder mit der Aufwärmübung „Laurentia“ halten sich die Teilnehmer warm und bei Laune. Noch besser wärmt der heiße Kaffee, den gastfreundliche OSC-Mitglieder heranschaffen.
Da, es reißt auf, die Startmannschaft macht sich zügig bereit. Doch im Moment des Startvorgangs weht plötzlich die nächste dicke Nebelschwade um die Ecke und aus Sicht der oberen Startmannschaft wird der Flug nebulös. Stille. – Und, nach einer gefühlten Ewigkeit, Erleichterung, als endlich der Traktor mit einem unversehrten Flugzeug nebst Pilotin wieder auftaucht. Also weiter warten. Im heimatlichen Bensheim wird inzwischen der Flugbetrieb aufgrund immer dichter werdenden Nebels eingestellt.
Glücklicherweise hebt sich hier im Tagesverlauf das Einheitsgrau, zeitweise kommt gar die Sonne zum Vorschein, so dass den weiteren Starts fast nichts im Wege steht. Betonung auf „Fast“: Ein paar weniger achtsamen Fußgänger sind im potentiellen Landefeld unterwegs. Hier bewährt sich die offene Bauweise und relativ langsame Fluggeschwindigkeit des Oldtimers: Ein lautes „Achtung, ich komme…“ aus dem Cockpit, ein paar erstaunte Blicke und die Bahn ist frei.
Überhaupt ist es für jemanden, der sonst an einem reinen Segelfluggelände fliegt, erstaunlich, wie viele unterschiedliche Luftsportler (Paraglider, Segel-, Motor-, Modellflieger) sich hier auf engstem Raum näher kommen, ohne sich ernsthaft zu stören. Es funktioniert, mit ein Bisschen Rücksicht auf allen Seiten.
Am Ende des Tages sind alle glücklich: Jeder hat mindestens einen Start bekommen, die Berechtigung „Gummiseilstart“ konnten erhalten werden, die Neugierde, wie das mit einem Schulgleiter früher funktionierte ist befriedigt. Horst freut sich, mit seinem SG38 endlich in die Luft gekommen zu sein. Aber am beeindruckendsten ist das Gemeinschaftsgefühl, das aufkommt, wenn alle gemeinsam an einem (Gummi-)Strang ziehen. Da ist er, der alte Geist der Segelflieger: Einer für alle, alle für einen.
Funksprüche
- „Maximalzuladung beträgt 100 kg.“ – „Aber hier auf dem Schild steht 120 kg?!“ – „Das ist das Flugzeuggesamtgewicht.“ – „Ups“
- „Die Idee war nicht schlecht, aber falsch.“
- „Hui, der fliegt weit…“ – „Der will ja auch Langstreckenpilot bei der Lufthansa werden…“
- „Soviel Aufwand für ein solch kurzes Flugvergnügen…“
- „Total geiles Gefühl, geht nur viel zu schnell. Bevor ich mich richtig umgeschaut hatte, war ich schon unten.“ -“Dann schau‘ halt nur nach vorne, dann hast du länger etwas davon.“
- „Lass uns die Flugzeiten im OGN nachschauen, dort werden die doch automatisch aufgezeichnet.“ – „Dazu brauchst du ein Flarm. Außerdem zeichnet OGN erst ab einer Geschwindigkeit von ca. 50 Km/h auf. So schnell fliegt der SG nicht, abgesehen von den ersten 1,5 Sekunden, zu kurz für eine richtige Erfassung.“
- „Die Sonne geht unter. Es wird zu dunkel, wir müssen aufhören.“ – „Also Uwe fliegt immer bis zum Ende der bürgerliche Dämmerung und die ist erst in 45 Minuten um. Man könnte unten Handytaschenlampen als Landebahnmarkierung auslegen…“
- „Wir gehen jetzt gemeinsam zum Südhang. Bleibt zusammen, damit ihr Euch bei dem Nebel nicht im Gelände verlauft.“
- „Die Wolkenuntergrenze interessiert uns nur in sofern, als das wir frei von Wolken und das Landefeld sehen können müssen…“
- „Die IFR-Tauglichkeit des SG38 ist übersichtlich, sprich so wie Instrumente, gar nicht vorhanden.“
- Nebelschwaden ziehen vorbei, einer der Gummihunde auf dem Rückweg: „Was für eine Suppe plötzlich, wo müssen wir denn hin?“ – „Erstmal bergauf, danach sehen wir schon…“ – „Hoffentlich. Im Moment sehe ich nämlich nichts. …Ah, da vorne war was…., jetzt ist es wieder weg…“
- „Das ist die Startstelle für Fortgeschrittene: Inklusive Kurvenflug, aber dafür sind im Gegensatz zu den anderen Startstellen längere Gleitflüge möglich.“ – „Boa, richtiger Streckengleitflug!“ – „Genau. Ab 500 m gibt es den Streckengleitflugdiamant…“
- „So, der Startcheck. Also ich bin fest und sicher angeschnallt, mein Fallschirm… hab ich nicht. Bremsklappen… auch nicht. Meine Ruder sind freigängig, der Höhenmesser…ähm fehlt, naja, ich schau halt raus. Funk ist…nicht vorhanden, sie werden mich schon hören. Der Wind kommt von vorne und bei einer Startunterbrechung mache ich… naja, der Start ist ja prinzipiell sehr schnell unterbrochen. Meine Haube… ach die hab ich ja auch nicht. Also meine Mütze sitzt fest. Wird schon gut gehen. Startbereit“